Kunst und Wissenschaft
Julia Münstermann
Entropy (2020–2022)
Als physikalisches Maß bezeichnet Entropie die Unordnung, auf deren Maximierung das Universum zusteuert. Dem wirkt die Schwerkraft entgegen, die Gebilde wie Galaxien, Sonnensysteme, Sterne und Planeten hervorbringt. In ihrer Serie Entropy setzt Julia Münstermann die widerstrebenden Prinzipien von Ordnung und Unordnung, Struktur und Chaos bildstiftend ein. Die an schwarz-weiße Aufnahmen leistungsstarker Weltraumteleskope erinnernde Gruppe von prozesshaften Tuschearbeiten evoziert Ansichten von interstellaren Nebeln, schwarzen Löchern, Stern-Clustern und anderen kosmischen Phänomenen: Blicke in die Tiefen des Alls, das in immer anderer Gestalt erscheint. Die im weiten Feld der Malerei aktive Künstlerin, die sich mit naturwissenschaftlicher Forschung und der Visualisierung des Unfassbaren beschäftigt, führt hier Absicht und Zufall in einem ästhetischen Experiment zusammen. In ihren kosmischen Bildräumen trifft dabei flüssige Tusche auf Salzkristalle, deren Lösungsenergie unberechenbare, galaktisch wirkende Strukturen erzeugt. So wird im Bildraum die Entstehung von Formationen im Weltraum nachgespielt, die der Konfrontation von Ordnung und Chaos entspringen.
Jan Köchermann
Frasseks Raumsammler / Film, 2018
Frasseks Keller, 2018
Frassek Raumsammler / Modell, 2018
In den 1960er Jahren erfand der vergessene Teilchenphysiker Hubertus M. Frassek ein Auto mit Auffangtrichter als Messgerät, um die Existenz winziger schwarzer Löcher zu beweisen. Jan Köchermann ließ seinen Nachbau von Frasseks Raumsammler 2017 erstmals auf dem Hamburger DESY-Gelände nach schwarzen Kleinstlöchern suchen: Ausgangspunkt eines künstlerischen Forschungsprojekts, das sich in multiplen Formen manifestiert hat. In verwackelten Sepia-Tönen folgt Köchermanns Super-8-Film dem exzentrischen Wissenschaftler Frassek bei dessen spaciger Mission im Trichterfahrzeug. Eine Guckkasteninstallation wiederum gibt den Blick frei auf Frasseks Keller, in dessen Tiefen ein dunkler Strudel wie ein schwarzes Loch ins Nichts führt. Als Miniaturreplik verweist der Raumsammler auf die fantasiegesteuerten Vehikel kühner Visionen, die wissenschaftlicher Erkenntnis als entscheidender Antrieb auf die Sprünge helfen. Köchermanns räumliche Interventionen und Konstruktionen sind Modelle einer erweiterten Wahrnehmung. Sie geben dem Undenkbaren Gestalt und machen das Unsichtbare greifbar – auch über Frasseks Raumsammler hinaus.
Jana Schumacher
Puzzle (2022)
In den Zeichnungen und Installationen von Jana Schumacher verdichten sich abstrakte Strukturen zu Ornamenten des Seins. Die Künstlerin spannt einen Bogen vom Mikro- zum Makrokosmos, der bis in die Tiefen des Alls führt. Ihr Raumensemble Puzzle symbolisiert die Suche der Wissenschaft, die auch die Kunst und die Menschheit allgemein betrifft, nach den großen Rätseln des Universums: Mysterien, denen die Partikelphysik durch die Erforschung der Dunklen Materie auf der Spur ist. Auf einem surreal wirkenden Konferenztisch, der Stanley Kubricks satirischem Sci-Fi-Klassiker Dr. Strangelove (1964) nachempfunden ist, erhebt sich eine Anhäufung aus zahllosen schwarzen Puzzlestücken. Das Zusammensetzen des Puzzles stellt eine kaum lösbare Herausforderung dar, die nur, so deutet der runde Tisch an, im Kollektiv zu bewältigen ist. Das potenzielle Gesamtbild, das aus den einzelnen Teilen des Spiels entstehen könnte, entzieht sich dem Zugriff ebenso wie die Dunkle Materie selbst: eine enigmatische Substanz, die bislang weiterhin Geheimnisse birgt. Wie auch in anderen Arbeiten thematisiert Schumacher hier die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten, die Künstler:innen und Wissenschaftler:innen gleichermaßen antreibt.
Marcel Große
Beschleuniger3 (2022)
Wissenschaftliche Verfahren sind Basis der ergebnisoffenen künstlerischen Experimente von Marcel Große. In seinen Versuchsanordnungen setzt er eine Fülle von Materialien ein: von Vorrichtungen aus Laborsituationen über Klempnereibedarf bis hin zu Druckluftbehältern aus dem Fahrzeugbau. Letztere sind auch Bestandteile seines aktuellen Beschleunigers3, der durch die Apparaturen der Teilchenphysik zur Simulation des kosmischen Urknalls und der Messung Dunkler Materie inspiriert ist. Bei Große folgt die damit verbundene Teilchenkollision in Höchstgeschwindigkeit indes einem eigenen, unberechenbaren System: Drei gegenüberliegende Drucklufttanks werden simultan in einem geschlossenen Raum entladen. Die so entstehende Druckwelle verteilt Farbpartikel, die hier auf Lithografie-Steine prallen. Analoge Prints ersetzen digitale Aufzeichnungsmethoden: eine Kooperation mit der Lithografie-Werkstatt des Museums. In seinen Arbeiten ist Große der Sichtbarmachung von Prozessen auf der Spur. Das Unerwartete wird dabei stets miteinbezogen, mögliches Scheitern inklusive. Analog zur Forschung liegt für den Bildhauer und Installationskünstler das erkenntnisleitende Prinzip in der produktiven Abweichung: der Ausnahme, die neue Regeln schreibt.
Tanja Hehmann
Beendigungsanfänge (2022)
In ihrer Installation Beendigungsanfänge begegnet Tanja Hehmann der Frage nach dem Ende des Universums zum Abschluss der Ausstellung mit einem multiperspektivischen Blick auf die ewigen Kreisläufe, die sich zwischen Werden und Vergehen, Geburt und Tod entfalten. Kosmische Untergangsszenarien sind für die Künstlerin Anlass, über die Urgründe des Lebens, die eigene Sterblichkeit und unsere Einbindung als Menschen ins große Gefüge der Welt und des Alls nachzudenken. Bestehend aus stoffbespannten Aluminiumrahmen aus dem Siebdruck, ist ihr Environment der Kapelle im Seitenschiff einer Kirche nachempfunden. Als meditatives Refugium angelegt, setzt es den High-Tech-Methoden der wissenschaftlichen Forschung sinnlich-organische Gestaltgebungen entgegen: eine poetische visuelle Landschaft halbtransparenter bis opaker, ruhiger bis wilder Bilder, die figurative und geometrisch-abstrakte Motive, vorgefundene Muster, Zeichnung und gestische Malerei verbinden. Im Zusammenspiel der verschiedenen Elemente eröffnet die Künstlerin Assoziationsräume, die zur Reflexion über das Unfassbare durch ein Eintauchen ins Hier und Jetzt einladen.